Als Kräuterkirche ist die Pfarrkirche im Binger Stadtteil Gaulsheim bekannt. Den Ruhm verdankt sie ihren Deckengemälden aus den 1970er Jahren. Sie zeigen rund 50 Pflanzen und Heilkräuter, die Jahrhunderte lang Speisezettel und Hausapotheken bereicherten. Zu Mariä Himmelfahrt bindet man sie traditionell zu einem Strauß, der zum Fest gesegnet und anschließend zu Hause getrocknet und aufbewahrt wird. Dem Volksglauben gemäß lassen sich so Blitz und Hagel abhalten.
Der romanische Turm aus dem zwölften Jahrhundert trägt heute eine barocke Haube. Er ist Kern der neugotischen Kirche mitten in Gaulsheim. „Hildegard von Bingen“, erzählt Jan Frerich, „hat den alten Kirchturm bestimmt gesehen.“ Frerich ist Journalist, Buchautor, Chorleiter und Organisator von Einkehrtagen und Erlebniswanderungen.
Hildegard von Bingen, die vielleicht bedeutendste Frau des Mittelalters, war in der Nähe zu Hause. Für sie waren die gleichsam vor der Haustür wachsenden Pflanzen, deren Bilder jetzt die Decke der sogenannten Kräuterkirche schmücken, Füllhorn eines gesunden Lebens. Das sieht auch Frerich so, der Besucher im franziskanischen Geist durch die Kirche führt. Fünf Jahre lebte er im Kloster, doch der Wunsch nach einer Familie war stärker.
Als Mitglied des Dritten Ordens der franziskanischen Familie ist er noch immer eng mit den Ideen des Ordensgründers verbunden. „Alles beginnt in der Natur. Sie ist die erste Bibel. Erst dann kommt die Heilige Schrift“, sagt er. Schon in vorchristlicher Zeit habe man den Kräutern bestimmte Kräfte zugemessen. Später nutzte die Kirche dieses Wissen, schrieb die Heilkräfte aber Gottes oder Marias Fürsprache zu.
Suche nach alternativen Heilmethoden
„In der Natur begegnen wir Gott. Wir müssen nur die Tür aufmachen“, sagt Frerich und erzählt, dass man den Kräutern zwischen den Festen Mariä Himmelfahrt am 15. August und Mariä Namen am 12. September besondere Kraft zumaß. Heute sei das Kräuterwissen wieder gefragt. Immer mehr Menschen machten sich auf die Suche nach alternativen Heilmethoden, nach Medikamenten, die ohne viele Nebenwirkungen auskommen und problemlos wieder abgesetzt werden können.
Dass Kräuter heilen können, war auch Gaulsheims einstigem Pfarrer bekannt, der Ende der 1970er Jahre die Decke seiner Kirche mit Bildern der gängigsten Heilkräuter ausmalen ließ – etwa mit der Schafgarbe, die sich in der Kräuterkirche neben Löwenmaul und Rainfarn findet. Im Volksmund galt sie als „Bauchwehkraut“, das bei Verdauungsbeschwerden ebenso half wie bei Blutungen.
Ihre vielen kleinen Blättchen sollten zudem den im Volksglauben von unbändiger Zähllust besessenen Teufel verleiten, sich ständig zu verzählen und so all seine Niedertracht zu vergessen. Auch das Johanniskraut wurde einst zur Vertreibung des Teufels herangezogen. Seine antidepressive und blutdrucksenkende Wirkung schätzt man bis heute.
Kaffee-Ersatz Wegwarte
Die Goldrute – auch Goldraute – in der hintersten Ecke der Kräuterkirche ist in Form harntreibender Tees gleichfalls noch immer ein beliebtes Naturheilmittel. Die Wegwarte nebenan, die blau blüht und mehr als einen Meter hoch werden kann, diente früher oft als Kaffee-Ersatz. Heute vertrauen ihr Naturheilkundler bei Erkrankungen der Milz, Leber oder Galle.